St. Pauli Werkstatt 2040

Unser Viertel. Unsere Vision.

Bis ins Frühjahr 2026 – pünktlich zum Auftakt des Jubiläumsjahres „Reeperbahn 400 Jahre“ – möchten wir mit euch zusammen an den Kernthemen St. Paulis, der Identität des Viertels, unseren Visionen, Wünschen und Zukunftsbildern forschen. St. Pauli ist, wie viele andere Orte auch, in der Zukunft stark herausgefordert. Grund genug,  gemeinsam und vor allem im Dialog ein Leitbild zu entwickeln, das uns, der Politik, der Verwaltung und der gesamten Stadt als roten Faden in vielen Zukunftsfragen dienen soll.
So freuen wir uns über eine breite Teilnahme. Natürlich: Je mehr desto besser.
Link zur Umfrage

Einst war der Plan, St. Pauli als Lebendiges Kulturerbe bei der Unesco eintragen zu lassen. Diese Pläne haben sich aus vielerlei Gründen geändert. Was wir aber nach wie vor wollen, ist unser Viertel zu gestalten und Nachbarschaften zu stärken.

Es gibt wahrscheinlich kaum einen vielfältigeren Ort. Kaum einen Ort, der so viele unterschiedliche Lebensentwürfe in sich vereint.

St. Paulis Geschichte lebendig halten!

St. Pauli ist mehr als nur ein Stadtteil – es ist ein Lebensgefühl, voller Geschichte und Geschichten! Genau deshalb haben wir, der Verein Lebendiges Kulturerbe St. Pauli e.V., uns 2019 gegründet. Unser Ziel? Die einzigartige Kultur und Historie von St. Pauli zu bewahren und erlebbar zu machen. Ob vergessene Straßennamen, alte Hafen-legenden oder die wilde Clubszene – wir sammeln, erzählen und vermitteln das, was St. Pauli ausmacht. Dabei setzen wir auf Führungen, Veranstaltungen und digitale Projekte, um das Erbe des Viertels für kommende Generationen zu erhalten.

Entstehung und Wandel

Dass St. Pauli ein Ort ist, an dem, wie ein heute 95jähriger Stadtteilkenner es formuliert hat, „jeder als Gast behandelt wird, egal woher er kommt“, hat historische Wurzeln:  Liberales Denken und tolerantes Handeln sind Keimzellen der St. Pauli-Kultur und in Quellen des 16. Jahrhunderts sogar schriftlich verankert: 1594, zur Zeit der Glaubenskriege und Konfessionszwänge, wurde für die Große und die Kleine Freiheit, per fürstlichem Edikt die (für die beiden Straßen namensgebende) Religions- und Zunftfreiheit festgelegt, sodass sich Glaubensflüchtlinge aus ganz Europa hier ansiedelten, weil sie ihre Gottes-dienste feiern und ihrer Arbeit nachgehen durften. Seit dem 16. Jahrhundert hat die mittlerweile älteste katholische Gemeinde Norddeutschlands in der Großen Freiheit ihre Heimat. In ihrer Gründungszeit war sie ein Zentrum jesuitischer Missionarstätigkeit, weil sie an vorderster Front zum „protestantischen Feind“ lag – und spätestens seit dieser Zeit gehört „Fremdes“ und Exotisches hier zum gewohnten Bild; sei es in Gestalt der Jesuiten aus Afrika, Asien, Südamerika, die der Kampf und der Glaube in die Gegend brachten, später in der Anwesenheit der Matrosen aus aller Welt, die sich seit dem 19. Jahrhundert auf dem Hamburger Berg amüsierten, oder in der Präsenz chinesischer Seeleute, die sich hier zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Hoffnung auf Wohlstand niederließen und damit Deutschlands einziges Chinatown formten. Die grundlegende Offenheit Neuem gegenüber hatte zur Folge, dass nicht das Festhalten an Althergebrachtem, sondern Wandel und Veränderung auf St. Pauli Tradition haben. Das zeigt sich auf den unterschiedlichsten Ebenen wie z.B in den oft als rücksichtslos wahrgenommenen städtebaulichen „Sanierungsmaß-nahmen“, deren „Bausünden“ das Antlitz des Stadtteils mehrfach stark veränderten, in der sich stets veränderten Zusammensetzung der „St. Paulianer:innen“ als Kultur-träger:innen,   im Vergnügungsangebot, das mit schnelllebigen Unterhaltungstrends mithalten muss, in Künstlergarderoben, wo allabendlich eine Verwandlung vom Mann zur Königin vollzogen wird. St. Pauli steht für „Bewegung“, nicht für „Verharren“ – ein Umstand, der im 17. Jahrhundert in Form der sogenannten „Festungsklausel“ sogar eine rechtliche Grundlage hatte: Die vom Senat erlassene Klausel untersagte den Bau fester Häuser im Umfeld des Hamburger Befestigungswalles. Wer sich hier ansiedelte, sollte sich also besser nicht auf Dauer einrichten. Eben weil „Wandel“ ein Charakteristikum St. Paulis ist, muss im Auge behalten werden, welche Tendenzen sich für das Viertel als positiv im Sinne von „die Kultur lebendig erhaltend“ erweisen und welche nicht. Das mag nicht einfach scheinen – doch lässt sich als Richtmaß recht simpel festhalten: „Verdrängen“ ist die einzige Bewegung, die nicht zu St. Pauli gehört.  

Kulturelle Ausdrucksform

Um St.Pauli in seiner kulturellen Gesamtheit und Besonderheit erfassen zu können, muss anstelle eines folkloristischen ein erweiterter Kulturbegriff angewendet werden. Hier besteht die Gemeinsamkeit in der Vereinbarung über Diversität.

In der gesamten Bundesrepublik ist St. Pauli wohl das anschaulichste Exempel dafür, dass Diversität ein Erfolgsrezept sein kann. Seit rund vierhundert Jahren konzentriert sich hier eine unüberschaubare Vielfalt an Milieus, Nationalitäten, Konfessionen, an unterschiedlichsten Lebenswelten und Lebensweisen. Ein Konglomerat unterschiedlichster Identitäten, die im Zusammenspiel den Raum formen, in dem sie existieren und St. Pauli zu etwas machen, das über eine geographische Angabe hinaus geht. Ein Ort mit einer Kultur auf „gleicher Augenhöhe“ mit jedermann, die es möglich macht, die ungewöhnlichsten Lebensmodelle zu realisieren, ohne „bekehrt“ oder bewertet zu werden. Gegensätze werden zwar häufig durch einige Schnäpse am Bartresen nivelliert, auf Dauer aber nicht aufgehoben, sondern bleiben erhalten, ziehen sich an und stoßen sich nicht ab, sondern finden in „St. Pauli“ ihren gemeinsamen Nenner und Identifikationspunkt. Oft genügt schon der Name „St. Pauli“ oder ein Totenkopf-Emblem des FC St. Pauli, um ein sogar Kontinente überspannendes, Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Das funktioniert, weil St. Pauli sowohl aus der inneren als auch der Perspektive von außen nicht allein als besonderer Raum mit eigenen Regeln, sondern als Haltung, wahrgenommen wird, die sich, wenngleich phrasenhaft so doch treffend, als „leben, leben lassen, aber nicht alleine bleiben“ beschreiben lässt. Die Kultur St. Paulis ist aus einem Substrat aus historischen Fakten, realen Gegebenheiten und bürgerlichen Ressentiments erwachsen: Seit dem 15. Jahrhundert wurde in der Gegend angesiedelt, was innerhalb der Stadt unerwünscht war – vom Pesthof zu den Nicht-Protestanten, vom ersten Laufhaus Deutschlands bis zum Schlagermove. In dieser Umgebung fanden stets jene ein zu Hause, die andernorts vertrieben wurden oder ihren Platz am Rand der Gesellschaft hatten: Fremde, Mittellose, Unterprivilegierte und „von der (jeweiligen) Norm Abweichende“ – ein Status, der verbindet.   Gleichzeitig ein Status, aus dem die bürgerlichen Eliten des 19. Jahrhunderts Gemeinsamkeiten konstruierten, wo keine waren. Quartier wie Bewohnern verliehen sie das Prädikat „prinzipiell nicht salonfähig“, weil es hier alles gab, was in ihren Augen suspekt war/ist – in erster Linie den „kleinen Mann“ in großer Zahl. Dazu das Amüsierviertel, das als unliebsamer, anrüchiger „Hot Spot“, der als „oberflächlich“, „nutzlos“ und „schädlich“ abgewerteten Populärkultur der Unterschicht, die zahlreich unüberwachbar in den Tanz- und Bierhallen St. Paulis zusammenkam. Es ist kein Zufall, dass sich parallel zum Aufstieg des Vergnügungsviertels im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts für St. Pauli der Begriff „St. Liederlich“ einbürgerte und somit dem Stadtteil erstmals eine Charaktereigenschaft zuwies und ihn gleichermaßen als „persönliches Manko“ wertete. Lange bis in die Gegenwart verliehen eine Wohnadresse oder ein Arbeitsplatz in diesem Stadtteil auch der weißesten Weste einen schwarzen Fleck, denn St. Pauli stand für „sittlich verdorben“, gefährlich und kriminell – Eigenschaften, die im Übrigen auch der populären „Un-Kultur“ der Unterschichten zugeschrieben wurden.

Im „Party, Sex&Crime“-Image des Stadtteils hat sich der „schlechte Ruf“ erhalten, nur dass er mittlerweile zum Kult und die „sündige(n) Meile(n)“ des Viertels zu einem Hauptwirtschaftsfaktor der Stadt avanciert sind, weil sie jährlich von Millionen Touristen besucht werden. Heute freut sich Hamburg über die „schräge“ Facette, die der „Schmuddelstadtteil“ der „braven“ Hansestadt beifügt und nutzt gewinnbringend, wofür es sich lange geschämt hat. Geht es um die Belange der „Schmuddelkinder“, verhält sich Hamburg ganz hanseatisch, indem es durch ausgesprochene Zurückhaltung glänzt. Ein Segen, weil dieser „Nicht-“ Umgang Freiräume eröffnet hat, aber auch ein Fluch, weil die Stadt zusieht, wie überteuerte Mieten und Billig-Kioske drohen, die Diversität des Viertels und seiner Amüsierlandschaft zu zerstören. Zwar sind Wandel und Veränderung St. Pauli- immanent, diese Entwicklung aber führt in die „seelische Erstarrung“ des Quartiers, weil sie Unterschiede nivelliert und die Vielfalt zum Einheitsbrei verwandelt. Damit wäre der lebendigen Kultur St. Paulis ein Ende gesetzt.

Auf St. Pauli selbst übt man sich in der Kunst, Kommerzialisierung und Stadtteilidentität in der Balance zu halten – gegen die Last der Besucherrekordzahlen und den „Goldrausch“ einiger Investoren.

Doch angesichts schwindender Identifikationsmerkmale, muss man sich fragen:

Wie lange hält St. Pauli das aus? Was wollen wir? Was soll St. Pauli in der Zukunft sein?

Die Identität

So gegensätzlich der Stadtteil, so widersprüchlich seine Wirkung, die anziehend und abstoßend, nach innen wie nach außen gerichtet sein kann – ein „Mikrokosmos“, der sich in ständiger Wechselwirkung mit sich und der Welt befindet. Nach innen gerichtet schafft St. Pauli einen Wertekanon und damit verbunden ein Gefühl von Gemeinschaft und Verantwortung für den eigenen Stadtteil und die Menschen, die hier leben. Das zeigt sich an zahllosen Initiativen, die im Laufe der Jahrzehnte für unterschiedliche Zwecke – von der Errichtung eines Beatles-Denkmals bis zur Winterhilfsaktion für Obdachlose, um nur zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen. Auf Gäste wirkt St. Pauli wie ein „Pausenraum des Alltags“, in dem man sich anders benimmt als sonst. Sobald die „unsichtbaren Schwellen“ des Amüsierviertels überschritten sind, herrschen – so die weitverbreitete Annahme – „andere  Regeln“. Nach dem Postulat, Ungewohntes sei hier Usus, sind Männer im Hasenkostüm durchaus in Ordnung, erwartet man Dildos in Schaufenstern, Transen, Biker, Dragqueens. Oft werden Vorgärten mit Toiletten, schlüpfrige Sprüche mit „angemessenem, einheimischem Sprachduktus“ verwechselt und gar nicht erkannt, dass mit dem, wie selbstverständlich plötzlich jedem gegenüber gebrauchten „Du“ bereits die wichtigste St. Pauli-Regel angewendet wird: Das „Prinzip der gleichen Augenhöhe“

Offene Fragen

Da niemand in diesem Quartier einen Absolutheitsanspruch für sich einfordern kann, freuen wir uns auf eine vielfältige und zahlreiche Teilnahme.

Download Infoflyer